Rund 18.000 Besucher*innen, fast 1.000 Speakers und Performers, über 400 Sessions und Workshops, 10 In- und Outdoor-Bühnen und 1 Bundeskanzler. Das war die re:publica 2022 – Europas größtes Festival der digitalen Gesellschaft. Das digitale Marketing muss hier jedoch (fast) draußen bleiben. Und trotzdem lohnt sich auch für Mitarbeiter*innen einer Mediaagentur ein Besuch. Stephan und Lukas aus dem Team OMD Create haben die re:publica besucht und fünf Learnings für Media und Content mitgebracht.
#1 Konsumenten begreifen Degrowth in der Zukunft als etwas Positives
Die zahlreichen Krisen auf allen Ebenen unserer Gesellschaft sind das Top-Thema der re:publica, egal ob wir Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer oder Digitalisierungsexperte Sascha Lobo zuhören. Lobo sagt in seiner Keynote, dass sich digitaler und ökonomischer Wandel nicht trennen lassen. Und Transformationsforscherin Maja Göpel beschreibt eine radikale Nachhaltigkeitswende, die bereits heute unsere Wirtschaftsform wandelt. Im Fokus stehe bei nachwachsenden Generationen nicht mehr die Wohlstandsvermehrung durch Geldvermehrung, sondern die Verbesserung der Lebensqualität durch einen kleinen ökologischen Fußabdruck. Die Lösung hierfür ist unter anderem der sogenannte Degrowth, der als positiv besetzter Begriff dem grenzenlosen Wachstum entgegentritt. Degrowth bedeutet weniger und bewussteren Konsum.
Das bedeutet auch, dass sich Werbung hier in Zukunft anpassen muss, denn die Verbildlichung eines Überflusses an Waren kann bei nachwachsenden Generationen zu Widerstand führen.
#2 Politik und Netzaktivisten verlangen mehr Regulierung von Digitalplattformen
Unter den Stichworten Datenschutz und Hassrede („hate speech“) diskutieren auf der re:publica die Teilnehmer*innen mit Forscher*innen, Internet-Aktivist*innen und Politiker*innen, wie Bundeskanzler Olaf Scholz oder Digitalminister Volker Wissing, wo wir in Deutschland und Europa bei diesen Themen auf politischer Ebene stehen. In seiner Rede mahnt Scholz, dass das Internet als vernetzter und demokratischer Raum erhalten werden muss und nicht in ein „Splinternet“ zerfallen darf, denn in Folge der Abschottung ganzer Wirtschaftssysteme, wie Russland oder China, sind digitale Technologien nun auch ein geopolitisches Machtinstrument. Desinformation, Cyberangriffe und Hate Speech nehmen zu. Daher will Scholz mit Deutschland und der EU lieber „Rulemaker statt nur Ruletaker“ sein. Verfahren, wie der Digital Services Act der EU, sind auf dem Weg und sollen geltendes Recht online durchsetzen. Twitter, Meta und Telegram stehen in der Verantwortung bei Hate Speech. Die EU schafft damit eine Art Plattformgrundgesetz, das auch einheitliche Regeln für Inhaltemoderation, Shadow Banning oder einen chronologischen Newsfeed bringen kann. Der Co-Gründer der re:publica und Gründer von netzpolitik.org, Markus Beckedahl, warnt dagegen vor personalisierter Werbung und einem Super-Cookie durch eine eID, also einer Werbe-ID. Daran dürften zwar Mediaagenturen und Werbetreibende ein Interesse haben, aber hier formiert sich auf netzpolitischer Ebene weiterer Widerstand. Der Ruf nach Regulierung ist auf der re:publica laut und Beckedahl wünscht sich eine Digitalagentur als Regulierer für die DSGVO-Durchsetzung.
Agenturen und Werbetreibende haben auch weiterhin die Aufgabe von den großen Plattformbetreibern nicht nur rechtliche Standards im Bereich Datenschutz einzufordern, sondern auch aktiv gegen das Phänomen der Hate Speech vorzugehen – beispielsweise durch gutes Community Management.
#3 Die Schattenseiten von TikTok, Roblox & Co erhalten hohe Aufmerksamkeit
Die re:publica ist traditionell kein Ort, an dem sich die Marketingbranche für ihre bunten Kampagnen auf Social Media abfeiert. Ganz im Gegenteil: auf der re:publica setzen sich die Teilnehmer*innen und Speakers kritisch mit der Ökonomie und den Inhalten der Plattformen auseinander. So spricht Digitalexperte Tariq Krim von einem „CyberWAR“ und „LikeWAR“, der Plattformen wie TikTok, Instagram und Facebook längst im Griff hat. In weiteren Session geht es um das Erkennen von Fake-Videos in Social Media, um Sekten auf Instagram und ihre Social Media-Strategie oder um das Phänomen #CartelTikTok und #PrisonTikTok – unter diesen TikTok-Hashtags werben Kartelle neue Mitglieder an und Häftlinge geben Einblicke in ihre Gefängniszellen. Und auch das Metaverse oder NFTs diskutieren die re:publica-Speakers mit kritischer Zunge. Besonders hervorzuheben ist hier der völlig überfüllte Talk von Jagoda Froer zu Roblox. Roblox gehört momentan auch im Marketing zu einem der größten Hypes und zahlreiche Marken verkünden ihr Metaverse-Engagement durch Aktivitäten auf Roblox. Die Plattform hat aktuell rund 50 Millionen tägliche Nutzer*innen. In ihrem Talk „Warum du dein Kind lieber Shooter spielen lassen solltest als Roblox“ holt Froer die Probleme von Roblox ans Tageslicht. So seien auf der einen Seite die 9-12 Jährigen Nutzer*innen laut Roblox-Geschäftsbericht die Fokuszielgruppe der Plattform, aber andererseits gibt es sogenannte Dark Patters, Verschleierungstechniken zur Monetarisierung beispielsweise über In-Game-Verkäufe in der Währung Robux, eine automatisierte Content-Moderation, die Kinder in Kontakt mit Content von blutigen Serien wie „Stranger Things“ oder sogar Mini-Games in Form eines Strip-Clubs bringt.
Für alle Marketingprofis muss hier auch im Sinne der eigenen Kunden, die dort eventuell als Werbetreibende auftreten, das Thema Brand Safety genau geprüft werden – abgesehen von moralischen Fragen, die sich aus den Geschäftspraktiken von Roblox ergeben.
#4 Das Marketing muss jetzt die Generation Alpha verstehen
Auf den OMR-Bühnen in Hamburg drehte sich im Mai Vieles um die Markenkommunikation mit der Gen Z. Diese ist auf der progressiven re:publica kein Thema mehr. Alle Aufmerksamkeit liegt auf der Generation Alpha, also den Geburtsjahrgängen von 2010 bis 2025. Vor allem die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten forschen oder arbeiten bereits an der Generation Alpha. So hat das WDR Innovation Hub Erkenntnisse aus einem Zukunftsreport präsentiert und auch die Macher*innen des Kinderkanals KiKa teilten ihren Wissensschatz. Demnach ist die Generation Alpha sozial divers, visuell-auditiv eingestellt und wendet sich Medien nicht mehr zu wie eine Gen Z- oder Millennials-Zielgruppe, sondern haben diese permanent um sich. Die Alexa-Technologie nehme die Generation Alpha bereits als Familienmitglied wahr und Algorithmen entscheiden, was ihnen ausgespielt wird. Medien-Macher*innen müssen ihnen vor allem zuhören und auf Augenhöhe begegnen. Hierarchien treten in der Hintergrund und Empowerment von Fehlentscheidungen wird wichtiger. Das hat auch Konsequenzen für die Content-Produktion: so muss Content für verschiedene Plattformen bereits mitgedacht und dann produziert werden. Content muss für die Generation Alpha Orientierung in ihrer Lebensphase auf den neuen Kanälen bieten und weiterhin gute fiktionale wie nonfiktionale Geschichten erzählen. Um das zu ermöglichen, setzt der KiKa für die Formatentwicklung bereits 13 Alpha-Personas ein und gibt der Partizipation der Generation Alpha über den Kinderredaktionsrat mehr Gewicht.
Agenturen und Werbetreibende haben nun ebenfalls die dringende Aufgabe, die Generation Alpha zu verstehen und ihre Content- und Format-Entwicklung auf Plattformen wie Snap, TikTok & Co entsprechend anzupassen.
#5 Die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz in den Medien begeistern
Keine Konferenz ohne das Buzzword KI. Auf der re:publica zeigten unter anderem der WDR und das ZDF, wo die Reise beim Einsatz von KI in den Medien hin geht. Dabei lieferte das ZDF mit seinem KI-Roboter „Robot Thoughts“ auf dem eigenen Stand einen der Hingucker der re:publica. Der Roboter in Form eines überdimensionalen Videowürfels zappte durch das Programm von „Terra X“, das auf einem TV-Monitor einige Meter entfernt gezeigt wurde. Der Roboter interpretierte das ZDF-Programm auf Basis von KI und machte es in Form von van Gogh-Bildern auf den Screens sichtbar. Außerdem zeigte der Roboter seine Emotionen. Natürlich ist dieser Use Case mehr Kunst als praktischer Nutzen, aber allein die Installation liefert Inspirationen für aufmerksamkeitsstarke und überraschende Content-Ideen zu Brand Stunts mit Hilfe von KI. Einen praktischen Use Case dagegen hat die zweite vom ZDF gezeigte KI-Anwendung: ein Live-Chat mit einem Wal. Besucher*innen konnten dem Wal jede beliebige Frage stellen und erhielten eine direkte Antwort im Messenger – eine tolle Erweiterung für Wissensprogramme in Zukunft. Das WDR Innovation Hub dagegen arbeitet an einer KI-basierten Nachrichten-App für Sportthemen, die sogar eine Perspektivenwahl für Fans unterschiedlicher Fussballvereine zulässt.
Auch in der Werbung hängt in Zukunft der Einsatz von KI stark von ihrer Akzeptanz in der Bevölkerung ab und von der Qualität der kreativen Umsetzung.
Bei Rückfragen zu diesen Themen stehen [email protected] und [email protected] per E-Mail oder auf LinkedIn zur Verfügung.
Hintergrund zur re:publica
Die re:publica fand vom 08. bis 10. Juni 2022 auf dem Gelände der Arena Berlin direkt an der Spree statt und stand dieses Jahr unter dem Motto „Any Way the Wind Blows“, welches die letzte Zeile aus Queens „Bohemian Rapsodey“ ist – das Lied, das die Teilnehmer*innen seit Jahren am Ende jeder re:publica gemeinsam singen. Mehr unter https://re-publica.com/.
Autoren
Stephan Naumann, Director OMD Create
Lukas Foehrenbacher, Junior Creative Campaign Manager OMD Create